Es ist ein Gedanke, der irgendwie stört. Einer, der nicht passt in die Ordnung des heutigen Selbst: Stellvertretung. Das ist kein Thema für eine Gesellschaft, die sosehr auf Autonomie besteht. Jeder ist verantwortlich für das, was er tut – und nur dafür. Das Ich duldet keine Fremdeinwirkung. Und dann ein solcher Satz: „Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz des Kreuzes getragen“ (1 Petr 2,24). Das ist keine Metapher oder ein Gleichnis. Das ist ein theologischer Einschnitt. Einer stirbt nicht an seiner Schuld, sondern an unserer.
Das Kreuz als Umbruch der Weltordnung
Die Moderne weicht hier gerne aus. Sühne und Opfer – das sind Worte aus einer anderen Ordnung. Mythisch oder archaisch bestenfalls. Jedenfalls unzeitgemäß. Doch gerade diese Unzeitgemäßheit entlarvt die Blindstellen unserer Gegenwart. Denn wer Stellvertretung denkt, denkt den Menschen nicht als abgeschlossene Monade, die sich selbst genügt. Der Mensch ist verbunden – mit anderen, mit der Geschichte und mit Gott. Sein Leben beginnt nicht mit ihm selbst, und es endet nicht mit ihm. Das ist eine Herausforderung für jedes Denken, das Freiheit nur als Unabhängigkeit begreift.
Auch das Kreuz selbst entzieht sich einer rein juristischen Deutung. Es geht nicht um eine göttliche Buchführung, bei der Schuld mit Strafe verrechnet wird. Es geht um mehr: einen Umbruch im Weltganzen. Jesus nimmt das System von Schuld und Gegenschuld nicht zurück – er trägt es bis in den Tod. Damit stellt er die Ordnung neu: nicht Vergeltung, sondern Barmherzigkeit; nicht Ausgleich, sondern Hingabe. In diesem Licht zeigt sich das Kreuz als Ort größter göttlicher Nähe – eine Nähe, die sich nicht zurückzieht, auch nicht vor Schmerz und Scheitern.
Stellvertretung als Ernstfall der Liebe
Bonhoeffer hat diesen Ernst auf den Punkt gebracht: „Nur der leidende Gott kann helfen.“ Wer sich auf das Leid des anderen einlässt, bleibt nicht unversehrt. Wer Leid mitträgt, geht mit unter. Wer eintritt für den anderen, wird verwundbar. Aber wer liebt, grenzt sich nicht ab. Genau das ist Stellvertretung: sich nicht retten und sich nicht absichern. Sondern annehmen, was sonst keiner will. Es ist die Entscheidung, mitzugehen, wo der Weg aufhört – bis in die Verwerfung hinein.
Christus sprengt nicht nur die mythisch gedachte Ordnung, er richtet sie auch neu aus. Mit ihm endet nicht die Idee einer Weltordnung – aber sie wechselt den Grund. Nicht mehr kosmologische Schuldzuweisung regiert, sondern ethische Freiheit. Der Mensch wird nicht unter ein starres Gesetz gebeugt. Wir sind zur Urteilsfähigkeit befreit. Die Stimme, die spricht, ist nicht mehr Donner vom Himmel. Es ist der leise Spruch unseres Gewissens. Eine neue Verantwortung, die nicht weniger fordert – sondern mehr. Das verändert auch das Bild vom Menschen. Gerade im Handeln Jesu gegenüber Frauen, Ausgegrenzten und Schuldigen wird deutlich: Gottes Ordnung verlangt keine Einpassung. Sie ruft zur Antwort, zur Liebe und zur Verantwortung.
Christliche Stellvertretung ist keine heteronome Überformung. Sie ist der Ernstfall der Liebe. Wer liebt, übernimmt. Wer glaubt, trägt. Nicht, weil man muss, sondern weil man will. Christus stirbt nicht als Opfer eines blinden Schicksals. Er stirbt, weil er frei ist. Und genau darin liegt seine göttliche Macht.
Die Auferstehung als Triumph der Stellvertretung
In diesem Licht erhält das Kreuz seine wahre Gestalt. Es steht nicht für göttliche Ferne, sondern für eine Nähe, die bleibt – auch im Dunkel. Die göttliche Stellvertretung eröffnet einen neuen Raum der Freiheit. Sie ist der Durchbruch einer Liebe, die Schuld nicht übersieht, sondern sie verwandelt. Nicht Abgrenzung, sondern Mitgehen eröffnet die Freiheit. Und das Sich-Hingeben im Schmerz des anderen gründet jene neue Ordnung, die von innen getragen wird.
Doch das Kreuz bleibt nicht das letzte Wort. Die Liebe, die sich hingibt, wird nicht ausgelöscht. In der Auferstehung Jesu zeigt sich, dass Stellvertretung nicht in der Niederlage endet. Sie führt zur neuen Schöpfung, die der Auferstandene eröffnet: Gemeinschaft in Freiheit, Schuld, die getragen ist und ein Leben, das nicht mehr vergeht. In ihm wird deutlich, dass das, was sich verliert, wiedergefunden wird. Wer trägt, wird verwandelt. Wer stirbt, lebt.
Das ist das Anstößige an der christlichen Botschaft: dass sie dort beginnt, wo alle Maßstäbe zerbrechen – in der Freiheit, für andere zu stehen.