von Pfarrer DDr. Johannes Laichner
Das Fest Allerseelen, an dem die katholische Kirche der Verstorbenen gedenkt („Dies in commemoratione omnium fidelium defunctorum“) und zugleich an die eigene Vergänglichkeit erinnert („Memento mori“), hat eine lange Tradition. Bereits im 7. Jahrhundert lassen sich vergleichbare Gedenktage nachweisen. In seiner heutigen Gestalt wurde Allerseelen erstmals im Jahr 998 n. Chr. von Abt Odilo von Cluny für alle ihm unterstehenden Klöster auf den 2. November festgelegt. Seit über tausend Jahren ist dieses Gedenken fester Bestandteil des liturgischen Kalenders. Die Kirche bittet an diesem Tag für die Vollendung der Verstorbenen bei Gott. Im Mittelpunkt stehen das Requiem, die Totenmesse, sowie das Gebet um Befreiung der Seelen aus dem Reinigungszustand, der als Fegefeuer (Purgatorium) bezeichnet wird.
Doch stellt sich die Frage: Ist es überhaupt notwendig, an Allerseelen für die Verstorbenen zu beten und für ihr Seelenheil die heilige Messe darzubringen? Das Konzil von Trient bestätigt mit Nachdruck, dass den Seelen, die noch einer Läuterung bedürfen, durch Fürbitten und besonders durch das Messopfer geholfen werden kann (DS 1820). Wer im Stand der Gnade stirbt – also ohne schwere Schuld und in Freundschaft mit Gott – hat das ewige Heil sicher. Dennoch muss die Seele, um in die volle Gemeinschaft mit Gott und in die Freude des Himmels eintreten zu können, einen Reinigungsprozess durchlaufen, der von Gottes Barmherzigkeit und der Hoffnung auf das ewige Leben getragen wird (vgl. KKK 1030–1031). Es ist daher verständlich, dass die Hinterbliebenen aus liebevoller Sorge um ihre Verstorbenen nach geistlichen Mitteln suchen, die deren Glückseligkeit fördern. Im Glauben sehnen wir nichts mehr herbei, als einst ganz mit Christus vereint zu sein – für uns selbst und für jene, die in dieser Hoffnung bereits von uns gegangen sind.
Die theologische Frage, ob das Fegefeuer – dieser Läuterungszustand – klassisch als Ort und Prozess der Reinigung nach dem Tod zu verstehen ist oder ob er sich zeitgleich mit der letzten bewussten Entscheidung im Sterben vollzieht, ist hier zweitrangig. Unabhängig von der jeweiligen Auffassung bleibt die dogmatische Kernaussage bestehen: Jede heilige Messe besitzt eine unermessliche Sühnekraft – sowohl für die Lebenden als auch für die Toten. Für die Seelen der Verstorbenen ist das Messopfer daher von unschätzbarem Wert. Der heilige Padre Pio von Pietrelcina drückt dies treffend aus: „Eher könnte die Erde ohne Sonne bestehen als ohne die heilige Eucharistie!“
Während des Requiems „pro defunctis“ an Allerseelen nehmen die Gläubigen nicht nur selbst Anteil an der Gnade der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Christus. Sie schenken zugleich die Frucht des Kreuzesopfers, das durch die reale Gegenwart Christi in den eucharistischen Gestalten unblutig gegenwärtig wird, den Seelen der Verstorbenen. Dieser Akt ist mehr als ein bloßes Erinnern und auch kein Ausdruck von Hilflosigkeit angesichts des Todes, sondern ein Liebesdienst: Wir feiern und opfern Gott in Vertretung der Toten. Hier zeigt sich die Größe der heiligen Messe. Sie macht in der Realpräsenz Christi am Altar die enge Verbindung zwischen den vollendeten Heiligen, den im Fegefeuer wartenden Seelen und den noch pilgernden Gläubigen auf Erden sichtbar. Am Altar sind wir geistlich von Engeln und Heiligen umgeben sowie von den Seelen, die noch auf Erlösung warten. Die Eucharistiefeier ist ein zeitloses, kosmisches Heilsgeschehen, das die Kirche als Leib Christi in ihrer tiefsten Einheit verwirklicht.
Die Kirche versteht sich als Heilsgemeinschaft, in der nicht nur Gott durch Christus Heil schenkt, sondern auch die Glieder dieser Gemeinschaft einander unterstützen – und diese Solidarität endet nicht mit dem Tod. Während der Priester die Stufen zum Altar hinaufsteigt und bei der Wandlung in persona Christi handelt, trägt er die Bitten der Gläubigen für das Seelenheil der Verstorbenen vor Gott. Dieser Augenblick durchbricht Raum und Zeit: Unsere Fürbitten gelangen hinein in die Ewigkeit. Christus selbst ist es, der handelt und das Opfer seines Kreuzes gegenwärtig setzt. So dürfen wir wie der Schächer am Kreuz rufen: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ – und hören die tröstende Zusage Jesu: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,42f.).
Das Kreuzesopfer Jesu auf Golgotha wird in jeder heiligen Messe unblutig neu gegenwärtig. Wie groß ist daher das Glück der Verstorbenen, die im Hochgebet der Kirche Gottes Liebe anempfohlen werden und in der Messe die Kraft des Erlösungswerks Christi erfahren. Viele Gläubige sorgen schon zu Lebzeiten dafür, dass nach ihrem Tod Messen für sie gelesen werden, sei es durch Messstipendien oder testamentarische Verfügungen. Wer die Messe zu Lebzeiten als Quelle von Kraft und Sühne geschätzt hat, darf gewiss sein, dass sie ihm auch nach dem Tod in überreichem Maß zugutekommt. Allzu selten wird dieser Gedanke heute als Argument für den treuen Messbesuch genannt – dabei führt uns gerade das Fest Allerseelen diese Wahrheit deutlich vor Augen.
Seine Botschaft ist heilsam: Gott rettet – und er lässt uns Lebende sogar in gewisser Weise an seinem Heilswirken mitwirken. Jede Totenmesse und jede heilige Messe, die wir in solidarischer Fürbitte für die Verstorbenen feiern, ist für deren Seelen ein unermesslich wertvolles Gnadengeschenk. Der heilige Pfarrer von Ars, Johannes Maria Vianney, bringt es auf den Punkt: „Alle guten Werke zusammen erreichen nicht den Wert eines einzigen Messopfers, denn es sind Werke der Menschen. Die Messe aber ist Gottes Werk.“
Der heilige Bernhard von Clairvaux, Gründer des Zisterzienserordens, soll im Jahr 1138 in Rom, in Gegenwart von Papst Innozenz II., während einer Messe für die Verstorbenen eine Vision gehabt haben: Er sah Engel, die Seelen über eine Leiter aus dem Fegefeuer in den Himmel führten. Dieses Bild ist voller Trost: Die Liebe Gottes, die sich in jeder heiligen Messe vom Altar in die Welt ergießt, ist für die Verstorbenen tatsächlich wie eine Himmelsleiter. Daher der eindringliche Appell: Bittet eure Priester oft, am Altar für das Seelenheil eurer Verstorbenen zu beten!
Allerseelen ist kein Tag bloßer Trauer, sondern ein Fest der Hoffnung, gegründet auf das unblutige Kreuzesopfer Christi, das im Requiem für alle Generationen erneuert wird. So erfüllen wir heute noch leidenschaftlicher den Auftrag der Kirche, die Solidarität der Heiligen über den Tod hinaus zu leben. Jede hl. Messe, jedes Requiem „pro defunctis“ reift so zu einem Akt tiefster Nächstenliebe. Wir dürfen darauf vertrauen, dass auch wir, wenn wir selbst einmal heimgerufen werden, von den Gebeten der Kirche getragen werden – und dass uns das ewige Licht leuchten wird. Darum beten wir unermüdlich: Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis. – Herr, gib allen Verstorbenen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen. Herr, lass sie ruhen in Frieden.“ Amen.
Predigt von Pfarrer Johannes Laichner, der im Seelsorgeraum Roppen seit 2012 für vier Pfarreien verantwortlich ist und zudem als Diözesandirektor des Päpstlichen Missionswerks Missio wirkt.
