Der Hirtenbrief von Papst Franziskus zeigt es deutlich – Der Papst liebt das Lesen und die Literatur. Doch er ist nicht nur persönlich ein begeisterter Leser, sondern er spricht in seinem mehrseitigen Brief in 44 Punkten über die Bedeutung der Literatur für den Menschenverstand, das Herz und die Bedeutung des Lesens im Glauben. In dem Brief greift er dabei auf persönliche Erfahrungen, Literaturtheorie und natürlich die tiefgründige Theologie im Beispiel der Apostelgeschichte im Evangelium zurück.
Er warnt ausdrücklich davor, die Bedeutung der Literatur in jeglicher Hinsicht zu unterschätzen und zeigt sich erfreut davon, dass zumindest „in einigen Priesterseminaren die Besessenheit von Bildschirmen – und von den giftigen, oberflächlichen und gewalttätigen Fake News – überwinden und der Literatur Zeit“ gewidmet wird. Papst Franziskus sieht in der Literatur eine Oase für die persönliche Ruhe und Gelassenheit.
Die Bedeutung der Literatur in der Bildung
Den Brief formulierte Papst Franziskus, um gerade bei den Priestern in der Ausbildung die Liebe zum Lesen wiederzuerwecken. Doch dann fiel ihm auf, dass dies nicht nur gut für die Ausbildung „pastoraler Mitarbeiter“ sei, sondern ebenso für alle Christen. In seinem Brief geht er zunächst auf die wohltuende Wirkung einer guten Lektüre ein, in dem er sie mit einer „Oase, die uns von anderen Entscheidungen, die uns nicht guttun, abhält“, vergleicht.
Für den Papst hilft ein gutes Buch der Allgegenwart, den sozialen Medien und allen elektrischen Geräten zu entfliehen. Weiter bietet die Literatur dem Leser die Möglichkeit selbst zu einem Autor zu werden, da jeder die Geschichten in seinem Kopf umschreibt und mithilfe der individuellen Vorstellungskraft eine neue Welt erschaffen kann. Im Gegensatz zu den audiovisuellen Medien sieht der Papst in der Literatur ein Werk, welches „lebendiger und fruchtbarer“ ist. Damit meint er, dass das literarische Werk den Leser bereichert und ihm dabei hilft, „sich in seinem Reichtum der eigenen Person zu entfalten, sodass jedes Werk, das er liest, sein persönliches Universum erneuert und erweitert.“
Mit dem Brief möchte er auf einen radikalen Kurswechsel aufmerksam machen, der seiner Meinung nach in der Priesterausbildung nötig ist. Für den Papst bekommt die Literatur, „mit wenigen Ausnahmen“, während der Ausbildung zu dem geweihten Amt nicht die verdiente Aufmerksamkeit. Darin sieht das katholische Oberhaupt das Problem für „eine ernsthafte intellektuelle und spirituelle Verarmung der künftigen Priester.“ Bemerkenswert in seinem Brief an die Priesteramtskandidaten, die Mitarbeiter der kirchlichen Gemeinden und alle Christen ist auch die persönliche Erfahrung, von der er darin erzählt.
Ja zur individuellen Literatur: „Jeder findet seinen eigenen Weg in der Literatur“
So erzählt Papst Franziskus von seiner Zeit in den 1960er Jahren, als er Literaturlehrer an der argentinischen Jesuitenschule in Santa Fe war. Seine Schüler wollte der damals 28-Jährige dazu bringen, „El Cid“ zu studieren. Diese wollten sich aber im Unterricht lieber mit „Garcia Loca“ beschäftigen. „Also beschloss ich, dass sie >El Cid< zu Hause lernen sollten, und im Unterricht würde ich die Autoren behandeln, die den Jugendlichen am meisten gefielen. Natürlich wollten sie auch zeitgenössische literarische Werke lesen. Aber während sie das lasen, was sie im Moment interessierte, fanden sie allgemeiner Gefallen an der Literatur, der Poesie, um dann zu anderen Autoren überzugehen. Letztlich sucht das Herz nach mehr, und jeder findet seinen eigenen Weg in der Literatur“, erzählt der Papst von seiner Zeit als Lehrer.
Er spricht von seiner Vorliebe für „tragische Künstler“, „da wir alle ihre Werke als unsere eigenen empfinden können, als Ausdruck unserer eigenen Dramen.“ Für Papst Franziskus ist es nebensächlich, aus welchem Genre die Bücher stammen. Es geht vielmehr darum, dass man es aus freiem Willen und nicht aus einem Pflichtgefühl heraus macht. Die Bücher, die man lesen möchte, sollte man „mit Offenheit, Überraschung und Flexibilität“ aussuchen. Zu konkretem Lesematerial äußert sich der Papst natürlich nicht. „Jeder wird die Bücher finden, die sein eigenes Leben ansprechen und zu wahren Wegbegleitern werden.“
Die Lektüre als Fels in der Brandung
In Anbetracht des Index der verbotenen Bücher, welcher erst nach dem zweiten Vatikanischen Konzils im Jahr 1965/66 abgeschafft wurde, ist diese Aussage von Papst Franziskus schön zu hören. Für ihn ist es so, dass wenn mal im Gebet nicht gelingt zur Ruhe zu kommen, „dann hilft uns ein gutes Buch diesen Sturm zu überstehen“ und sorgt für die nötige Gelassenheit. Die Literatur eröffnet vielleicht sogar dabei „neue innere Räume, die uns helfen, uns nicht in jenen zwanghaften Ideen zu verschließen.“
Dennoch warnt Papst Franziskus davor, dass man nie das „Fleisch“ Jesu Christi aus den Augen verlieren dürfe. „Dieser Leib, der aus Leidenschaften, Emotionen, Gefühlen, konkreten Geschichten, Händen, die berühren und heilen, Blicken, die befreien und ermutigen, Gastfreundschaft, Vergebung, Empörung, Mut, Unerschrockenheit besteht, mit einem Wort: aus Liebe.“ Auf dieser Ebene sieht der Papst eine große Hilfe der Literatur für die „künftigen Priester und allen pastoralen Mitarbeitern“, um gegenüber der „vollen Menschheit Jesu“ noch sensibler zu werden.
Auch wenn die Literatur nach der Meinung der Wissenschaftler ein gutes Hilfsmittel ist, um seinen eigenen Horizont und Wortschatz zu erweitern oder „die Phantasie und Kreativität anzuregen“ sowie „die Konzentrationsfähigkeit zu verbessern, den Grad des kognitiven Verfalls zu verringern, Stress und Angst zu lindern“, hat die Literatur für ihn noch eine viel wichtigere Bedeutung. Durch das Eintauchen in die diversen Charaktere der Literatur lernen wir „die Dramen, die Gefahren, die Ängste von Menschen“, die in der Lektüre eine Herausforderung meistern mussten, kennen. „Wir geben den Figuren während der Lektüre vielleicht Ratschläge, die uns später selbst dienen werden“, hält der Papst es für möglich, dass uns die Bücher auf unser eigenes Leben und die verschiedensten Situationen vorbereitet.
Bücher helfen die Schnelllebigkeit des Lebens zu verlangsamen
Neben dem Lerneffekt, welchen die Literatur für uns bereithält, dient sie dazu, das Leben wirklich zu erfahren. Die Gefahr in unserem Leben und selbst im Pastoralen oder karitativen Dienst besteht darin, durch den Druck der Gesellschaft „in ein Effizienzdenken zu verfallen, das die Unterscheidung trivialisiert, die Sensibilität verarmen lässt und die Komplexität reduziert.“ Um dem entgegenzuwirken, ist es für den Papst ratsam, „zu verlangsamen, zu betrachten und zuzuhören“. Dies könnte man durch das Lesen eines Buches erreichen.
Gerade mit Blick auf das aktuelle Weltgeschehen, mit all den Kriegsschauplätzen hat der Papst in seinem Brief etwas von unfassbarer Wichtigkeit geschrieben: „Durch die Lektüre eines literarischen Textes werden wir in die Lage versetzt, durch die Augen anderer zu sehen, und erlangen so einen Blickwinkel, der unsere Menschlichkeit weitet. Dadurch wird in uns die empathische Kraft der Vorstellungskraft aktiviert, die ein grundlegendes Vehikel für die Fähigkeit ist, sich mit dem Standpunkt, dem Zustand, dem Gefühl der anderen zu identifizieren, ohne die es keine Solidarität, kein Teilen, kein Mitgefühl, keine Barmherzigkeit gibt.“